Eine Form der Therapie
erschienen in »design report« 6/2009 / Seiten 32-34
Prothesen und Orthesen werden – wie alle Medizinprodukte – von einem sehr komplexen Umfeld wahrgenommen, akzeptiert oder abgelehnt. Ein erfolgreiches medizintechnisches Produkt überzeugt den behandelnden oder wissenschaftlich arbeitenden Mediziner, den anwendenden Orthopädietechniker, den Patienten, dessen Angehörige, den Versicherer, den Gesetzgeber, den begleitenden Therapeuten, den konstruierenden Ingenieur, den rechnenden Kaufmann und manchmal auch die Jurys von Designwettbewerben. Bei so vielen Rezipienten kann das innovative Medizinprodukt nur interdisziplinär entwickelt werden.
Obwohl in der Medizintechnik die systemisch eingebettete Innovation eine Voraussetzung für den Erfolg ist, trifft hier jede Innovation – im Gegensatz zum Konsumgütermarkt – auf ein insgesamt langsames System. Dies geschieht zu Recht, da niemand einen medizintechnischen „Schnellschuss“ am eigenen Leibe (er)tragen möchte. Dies geschieht zu unrecht, wenn ein Mangel an Ideen der Grund für einen unbefriedigenden Status quo ist.
Bewährtes Modulprinzip
Orthesen und Prothesen werden üblicherweise vom Orthopädietechniker an den Patienten angepasst. Kontinuierlich stieg und steigt der industrielle Vorfertigungsgrad der einst rein handwerklich gefertigten Produkte. Die nach dem ersten Weltkrieg durch den Unternehmer Otto Bock etablierte Systematisierung von vorproduzierten Prothesenpassteilen ist im Wesentlichen bis heute gültig, auch wenn sich die Bauweise selbst weiterentwickelt hat. Die modulare Rohrskelettbauweise (Schaft, Kniegelenk, Rohr, Fuß) ist Stand der Technik und hat bisher alle Innovationen als System unbeschadet überstanden, die Digitalisierung genauso wie Materialneuerungen (vom Stahl über Aluminium zum Kunststoff bis zur Carbonfaser).
Derzeit stellt sich die Frage, ob zukünftige Innovationen sich innerhalb des bestehenden Rohrskelettsystems abspielen oder gänzlich neue Systeme entstehen. Die bereits im Jahr 1996 vorgestellte, noch heute beispielhafte Konzeptstudie einer Unterschenkelprothese in exoskelletaler Rahmenbauweise zeigt diese Suche nach einem neuen Bauprinzip.
Orthesen werden sportiv
Im Gegensatz zur Prothetik führten in der Orthetik neue Materialien respektive deren Kombinationen schneller zu neuen Bauweisen, da Orthesen keinem allumfassenden Systemgedanken wie in der Prothetik unterliegen. Die überaus vielfältige Materialwahl entwickelte sich von Holz, Leder, Stahl und genähten Textilien über Aluminium und Kunststoff hin zu faserverstärkten Materialien, Mehrkomponentenspritzgussteilen und leistungsfähigen, mittlerweile verschweißten Textilkombinationen. Mitunter sind noch uralte Schienen-Bauprinzipien in Kombination mit Hightech-Materialien zu entdecken. Im Holzhandwerk käme dieses Phänomen einer Keilverbindung nahe, deren Keil aus Carbonfaser gefertigt wäre.
Insgesamt weist die Anmutung von Orthesen eine Qualitätssteigerung auf und eine zunehmende Ähnlichkeit zur Funktionskleidung oder Produkten des Sports. Diese erfahren im Gegenzug einen Trend zur „Medizinisierung“, da ein wechselseitiger Transfer zwischen Medizintechnik und anderen Disziplinen stattfindet.
Schnittstellenproblematik heute und morgen
Die Schnittstelle einer Orthese oder Prothese zum Körper ist und bleibt ein erfolgsentscheidender Punkt. Großes handwerkliches Können ist nötig, um einen Prothesenschaft mit optimaler Stumpfbettung, eine Lähmungsorthese für ein heranwachsendes Kind oder gar die Fußbettung eines Diabetikers mit empfindlichsten Hauteigenschaften herzustellen. Einen neuen Weg zeigt hier die autoadaptive Rückenorthese „LumboTristep“ auf, deren wesentliche Funktionslemente sich selbstständig an den Patientenkörper anpassen. „LumboTristep“ wurde von Orthopädietechnikern, Ingenieuren und Ärzten von Otto Bock gemeinsam mit externen Designern entwickelt.
Neue Technologien lenken den Blick erneut auf die Schnittstelle von Prothese und Mensch, nun aber unter dem Aspekt der Steuerung und Informationsübertragung. Als Wegbereiter einer aktiv gesteuerten Prothese kann der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) genannt werden, dessen innovative Operationsmethode es ermöglichte, eine Prothesenhand mit den verbliebenen Muskeln des Armes so zu verbinden, dass ein aktiv gesteuertes Schließen der Hand gelang. Später folgten myoelektrische Lösungen, wobei ein Sensor die durch Muskelaktivität erzeugten Spannungsänderungen auf der Hautoberfläche wahrnimmt und zur Steuerung nutzt.
Diese Schnittstelle wandert zusehends in das Innere des Körpers. So zielt die Vision heute auf die „Gedankensteuerung“ der Prothese ab, Gegenstand der Forschung ist entweder die erweiterte Nutzung der verbliebenen Nervenenden oder das Gehirnimplantat selbst. Die erfolgreiche Anwendung dieser Technologien mag auch in nicht-medizintechnischen Zusammenhängen eine Avantgardefunktion erfüllen. Der Zugriff auf das Gehirn beflügelt immer auch die Phantasien von kontroll- oder leistungsfixierten Menschen, deren Ziel nicht Heilung oder Linderung, sondern die künstliche Erweiterung menschlicher Möglichkeiten ist.
Design in Reinstform
In der Medizintechnik stellt sich dem Designer (und dem Auftraggeber) die Frage, ob er als Einzelgänger Produkte „schön machen“ oder in interdisziplinärer Zusammenarbeit „schöne Produkte“ machen soll. Wird er lediglich Entwürfe abliefern oder kann er die – üblicherweise von Überraschungen geprägte – Umsetzungsphase (mit-)gestalten? Alle anbei gezeigten Produkte entspringen der letztgenannten Auffassung von Zusammenarbeit.
Ist die prinzipielle Fragestellung zu Beginn eines Projektes von geschlossener Natur („Entwickeln Sie ein Design für einen Schienen-/ Schalenapparat für gelähmte Patienten“), so werden dadurch mögliche Ergebnisse und Innovationspotenziale schon im Vorfeld stark eingeschränkt. Offene Fragestellungen („Wie kann man einen gelähmten Menschen aufrichten?“) hingegen beflügeln die Innovation.
Üblicherweise arbeiten Design und Konstruktion in der Prothetik und der Orthetik ohne „doppelten Boden“: Angesichts des permanenten Drucks, komplex funktionierende, kompakte und kostengünstige Lösungen anzubieten, entsteht eine Situation, die wenig Raum lässt für additive Verzierungen oder verbergende Gehäusesituationen, wie sie aus dem Konsumgütermarkt bekannt sind. Dies führt für den Designer zu einer Situation, die einer „Operation am offenen Herzen“ gleicht, denn er arbeitet üblicherweise mit der sichtbaren Konstruktion. Das Verstecken der Konstruktion gleicht hier einer Flucht, die entweder zu einem finanziellen oder gewichtsspezifischen Mehraufwand führt.
Respekt vor dem Patienten
Der Designer moderiert die Begegnung des Produktes mit allen Nutzern und unterstützt die Fähigkeit des Produkts, am und mit dem Menschen zu funktionieren. Da industriell vorproduzierte Produkte weltweit eingesetzt werden, wird es zusehends wichtiger, die Eigenschaften eines Medizinprodukts oder seine Bedienbarkeit nonverbal, auch durch Design, zu kommunizieren. Ein industriell hergestelltes Medizinprodukt wird nicht nur in einem Dutzend verschiedener Sprachen erörtert, sondern trifft ebenfalls auf unterschiedliche Mentalitäten und Therapietraditionen. Je selbsterklärender, lesbarer und für alle Beteiligten nachvollziehbarer ein innovatives Produkt seinen Weg in die Welt startet, desto größer erscheint seine Chance auf Erfolg.
Obwohl Medizinprodukte weder das Krankheits- noch das Gesellschaftsbild ändern, kann faszinierendes Design das Selbstbewusstsein und die Wahrnehmung eines Patienten zum Guten verändern. Im Gegensatz zu einem rein indikationsfixiertem Konstrukt erweist ein proportioniertes, ergonomisches und alltagstaugliches Produkt dem Patienten als kompletten Menschen Respekt.
Design für die Medizin ist Innovationsdesign
Design im Sinne des „Hübschmachens“ kann einen durchaus negativen Beigeschmack im medizintechnischen Umfeld haben. Ein vordergründig gestyltes Medizinprodukt kann Misstrauen sowohl beim Patienten als auch beim Versicherer wecken. Schön aussehende Produkte sind prinzipiell nicht unerwünscht, aber kein Grund für eine Krankenkasse, diese Produkte zu bezahlen. Im Gegensatz zum Konsumgütermarkt betont und belohnt der medizintechnische Markt nicht die kreierte Emotionalität als Kaufkriterium.
Der Designer in der Medizintechnik erinnert sich aber schnell an ein mitunter vergessenes Anliegen des Designs, nämlich den Nutzen und die Lesbarkeit eines Produktes für alle Beteiligten zu steigern. Je schneller der Designer sich daran beteiligt, Produktargumente im Sinne der besseren Heilung, Linderung oder Anwendung zu finden, desto früher wird er sich in der Medizintechnik wohl fühlen und eine spannende Zukunft mitgestalten. Innovationen können von allen Beteiligten des interdisziplinären Entwicklungsprozesses ausgehen – erwiesenermaßen auch vom Design.