Prothesen: Imitat oder Denkmal eines Körperteils
erschienen in »lifescience design 2006« / »Prostheses: imitation or commemoration of a body part« / hrsg. von Sylvia Deutschmann und Peter Zec / Essen 2006 / S. 34-37
Hintergrund
Jede Krankheit oder Versehrtheit wird nicht nur über ihre Merkmale wahrgenommen, sondern auch über die Produkte mit denen ihr begegnet wird. Im Falle einer Amputation sind dies Prothesen. Prothesen sind der produktgewordene Teil einer medizinischen Behandlung. Dieser Umstand kann Designer mit dem Gefühl der Wichtigkeit oder großer Demut erfüllen, wenn man die produktgewordenen Antworten auf den immer noch unverstandenen Alltag betrachtet.
Vorbild für die prothetische Versorgung eines Amputierten ist in der Regel der unversehrte und komplette Mensch. Dementsprechend wird versucht, das verlorene Körperteil durch eine Prothese möglichst naturgetreu nachzuahmen. Die Technik für diese Anstrengungen ist alt. Die prinzipiellen Bauweisen einer Beinprothese sind seit langem die Schalen- und die Rohrskelettbauweise. Die eingesetzten Materialien haben sich im Laufe der Medizingeschichte (von Holz, Leder und Stahl über Aluminium hin zu Kunststoffen, Glas- und Carbonfasern) weiterentwickelt, aber selbst heute noch ist der Charakter der ursprünglichen Bauweisen erkennbar.
Mit der Vorstellung einer imitierenden oder verbergenden Prothesenkosmetik wird das Versprechen gegeben, wieder „normal“ zu erscheinen. Obwohl der prothetisch versorgte Mensch in unterschiedlichsten Zusammenhängen schon längst Realität ist, hat sich das Menschenbild nicht dementsprechend weiterentwickelt. Der medizinische, prothetische und zukünftig wohl nanotechnische Eingriff in den Körper findet im Verborgenen statt. Teils unter dem Deckmantel der Kleidung, teils unter dem der Haut selbst. Diese Unsichtbarkeit des Fortschritts scheint zwar die Intimität des Eingriffs zu wahren und die Angst vor Entdeckung einzuschläfern, doch ist dies ein unruhiger Schlaf. Mit ihm einher geht häufig eine Beklommenheit der Beteiligten, wenn die medizintechnische Lösung unsichtbar – ohne Bild – ist.
Jeder Mensch hat ein Bild oder eine Vorstellung von sich und seinem Körper. Dieses innere Bild entspricht dem Körper oder nicht. Zu meinem Freundeskreis zählt eine fülligere Frau, deren inneres Bild ihres Körpers ebenso groß ist, wie ihr Körper selbst. Anders gesagt: sie ist in der Lage, jedes Gramm ihres Körpers zu beseelen. Das ist der Stoff, aus dem die Schönheit ist. Würden die verruchten Appelle der Schönheitsindustrie an ein schlankeres Selbstbild sich bei ihr verfangen, so würde sie wohl beginnen, ihre Körperglieder fremd zu betrachten, einen Unterschied von Bild und Körper feststellen und fortan „dick“ sein. Diese Werbeappelle an das innere Bild beziehen sich natürlich nicht nur auch auf die Leibesfülle, sondern umsatzversprechenderweise auf den gesamten Körper, seine Geometrien und seine Oberfläche.
Der Verlust eines Körperteils führt zu einer zwangsweisen Auseinandersetzung mit einem radikal veränderten eigenen Körper. Wie sieht das diesbezügliche „Update“ des Selbstbildes aus? Zum Einen sind die körperlichen und seelischen Genesungswege so unterschiedlich wie die Naturelle der Betroffenen selbst. Es hängt aber auch von den Angeboten ab, die dem Betroffenen gemacht werden. Lautet das Angebot, dass die körperliche Andersartigkeit durch ein Imitat kaschiert wird, so beinhaltet dies gleichzeitig, dass das „alte“ Bild des Körpers für den Außenstehenden (und sich selbst?) aufrecht erhalten bleibt, obwohl es keine körperliche Entsprechung mehr besitzt. Eine Auseinandersetzung mit dem veränderten Körper findet in diesem Falle nicht oder im Privaten statt. Jüngere und zumeist offensivere Amputierte gehen andere Wege. Sie verstecken sich und ihre schicksalhaft erworbene Andersartigkeit nicht. Sie verstören die simpleren Charaktere der Gaffer und erobern sich den Respekt für sich, so wie sie sind.
Es gibt einen schwer zu beschreibenden Unterschied zwischen dem lauten Zeigen einer Andersartigkeit und dem stillen energiesparenderem Nicht-Mehr-Verbergen. Aber das Stille folgt immer dem Lauten. Nur im Falle einer seelischen Katastrophe wird laut, was lange still war.
Zur Gestaltung von Prothesen
Ein Körperglied muß ausschließlich im ästhetischen Zusammenhang mit dem Körper funktionieren. Vom Körper getrennt ist es ein Teil des Horrors. Ein Arm, Bein oder gar Kopf ohne Körper erschreckt. Eine Prothese muß ästhetisch sowohl im Körperzusammenhang als auch ohne den Körper funktionieren. Immer wieder gibt es Situationen privat oder z.B. im Schwimmbad, wo eine Prothese ohne ihren Träger wahrgenommen wird. Eine Prothese, die das Körperglied imitiert, würde hier auf ähnliche Weise verstören wie ein Körperteil ohne Körperzusammenhang.
Eine Prothese befindet sich dort, wo früher ein Teil des Körpers war. Ergo nimmt sie nicht nur Bezug zum Körper des Patienten, sondern auch zu dem Teil, der jetzt nicht mehr dort ist, also Bezug zu etwas Unsichtbarem. Was bedeutet dies für das Design von Prothesen? Wenn eine Beinprothese Ausbeulungen besitzt, so ist dies leicht mit Beulen auf einem Bein (Aua!) oder einem Pickel zu assoziieren. Ritzen oder Kratzer auf einer Prothese würden womöglich die Vorstellung eines verletzten Körperglieds entstehen lassen. Ein gelungenes Design zollt sowohl dem nicht (mehr) gegenwärtigen Körperteil, als auch den gegenwärtigen Anforderungen an Form und Funktion Tribut.
Der menschliche Körper ist für das Vorwärtsschreiten gemacht, für das Vorwärts in eine unsichere und gefährliche Umwelt. Alle Sinnesorgane sind in Normalstellung nach vorne ausgerichtet. Ebenso liegt der Aktionsspielraum der Arme im Wesentlichen vor dem Körper. Empfindliche Teile (Blutgefäße, Hauptnervenstränge) befinden sich tendenziell in den innengewandten und hinteren Regionen des Körpers (der innere Oberarm ist der Ort für die empfindlicheren und verletzbarsten Anteile des Armes, der außenliegende Bereich wird hauptsächlich durch wehrhafte Muskeln und Knochen gebildet). Prothesen sollen den Menschen stützen, stärken und schützen. Auch eine Prothese muß für den Gang in eine ungewisse Gegend tauglich sein. Wer vorwärts will, braucht (auch im übertragenen Sinn) Frontalschutz.
Der Begriff des „natürlichen Körpers“ ist letztlich nicht mehr zu definieren. Ist der natürliche Körper frei von Prothesen, von Impfungen oder körperlichem Training? Allenfalls ein Kulturverständnis entscheidet, ob ein Körper oder Teile von ihm als natürlich oder künstlich empfunden werden. Kultur kann alles, das Schrecklichste und Schönste zum Alltag werden lassen. Hier versteckt sich der eigentliche Auftrag des Designs in der Medizintechnik. Neben der hoffentlich vorhandenen Fähigkeit des Designs, die Alltagstauglichkeit von Prothesen oder Medizinprodukten zu steigern, denn Prothesen sind alltäglich, ist es ebenso Entwurfsaufgabe, eine Aussage über den Menschen zu treffen.
Eine Prothese ist das funktionale Denkmal eines Körperteils. Sie ist ein Werkzeug, das gewollt oder ungewollt immer eine (technische, medizinische oder kulturelle) Aussage über ein Menschenbild trifft. Die Gestaltung von Prothesen moderiert diese Aussage. Sieht ein künstliches Herz aus wie ein Uhrwerk? Dann würde es den Menschen im ästhetischen Zusammenhang zur Maschine erklären. Hier könnte eingewendet werden, dass eine Herzprothese nur unter dem Röntgenschirm wahrzunehmen sei, aber vor einer Operation sieht der Patient DAS, was ihm (hin-)zugefügt wird. Und nach einer Operation denkt er an DAS. Und DAS was er sieht, wird auch seinen Grad an Mut oder Beklommenheit bestimmen.
Die Brille als (mittlerweile) harmloseres Beispiel illustriert den erfolgreichen Weg eines Medizinprodukts vom notwendigen Übel hin zum allseits akzeptierten modischen Accessoires. Gilt ein zweifelsfrei durch seine Kurzsichtigkeit behinderter Brillenträger heute noch als behindert im Sinne des Objektes von Spott oder Mitleid?
Die Gestalt von Medizinprodukten kann den Menschen stark machen, stark vor den Blicken anderer und stark in seinem Selbstverständnis. SIe kann ein obsoletes Körper- und Menschenbild weiterführen oder Hinweise auf ein neues, zu eroberndes Selbstbewußtsein geben. Die Frage des 21. Jahrhunderts ist daher nicht, wie Prothesen dem „natürlichen“ Körper imitierend beigestellt werden, sondern vielmehr, wie es dem „kulturellen“ Körper gelingt, Prothesen erfolgreich zu adaptieren.